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Das Massenphänomen.

So, Jul 12, 2015

Schnipsel

Das Massenphänomen.

Jetzt ist sie wieder da, die Zeit, in der man dort ist, wo alle sind. Straßenfeste, Open Air Konzerte, Schwimmbäder – Events allerorten. Gefühlt jedes Jahr mit einem neuen Besucherrekord. Es ist hart, einen Platz zu ergattern. Auf der Wiese, an Getränkeständen, und dort, wo es zu Essen gibt. Wohl dem, der über 1,90 Meter ist, den anderen bleibt der Bellevue auf Rücken. Rücken mit Ausschnitt, breite Rücken, verschwitzte Rücken, Rücken mit Kindern obendrauf. Die Geschwindigkeit des Abends geben andere vor. Von A nach B schiebt man sich im Strom. Je später der Abend, desto mehr Alkohol fließt mit im Strom. Und mit ihm dominieren die denkbar unangenehmsten Menschen akustisch die Szenerie. Möglicherweise merkt man an meiner Beschreibung der beliebtesten Freizeitbeschäftigung im Sommer, dass sie mir ein Graus ist. Ich bin nicht so gern da, wo alle sind. Es wäre vielleicht schön dort, wenn da eben nicht alle wären, sondern, sagen wir, die Hälfte von allen.

Die meisten Menschen stören sich weniger an anderen, sie blenden sie einfach weg. Aber genau diese Menschen sind es, die mir sagen, ein Volkslauf wäre nichts für sie. Dort wären ja so viele andere und man könne gar nicht „für sich“ sein. Das ist natürlich wahr, ein Volkslauf ist meistens auch ein Volksauflauf und wer träumt schon per se davon, gemeinsam mit 40.000 Menschen irgendwo hin zu laufen. Auch hier muss man anstehen. An den Toiletten zum Beispiel. Und doch hat mich das muntere Gedrängel hier nie gestört, es sei denn die Strecke war wirklich für die Teilnehmerzahl nicht geeignet und es kam zu lästigen Engpässen.

Ein Volkslauf ist kein Volksfest, auch wenn der Spaßfaktor bei ersterem für mich deutlich höher ist. Beim Volksfest ist mir der Nächste ein Konkurrent – um Platz, um Getränke, um freie Sicht. Beim Lauf eint uns das gleiche Ziel und wir haben die gleiche Richtung. Besonders beim Marathon brauchen wir alle Geduld, die Geduld ist Teil der Verabredung, die wir mit der Strecke haben. Wir laufen los und wenn wir klug sind, lassen wir es fließen. Deshalb sind Staffelläufer beim Marathon manchmal so störend, sie teilen nicht unseren Flow, haben nicht unseren Zeithorizont. Nie haben wir Angst, irgendwo gerade etwas zu verpassen, die Performance auf Bühne B, den Magier auf Bühne 8. Es gibt nichts zu wollen beim Marathon, außer das Ziel zu erreichen und vielleicht den nächsten Getränkestand. Das macht gelassen. Man kann „für sich“ sein, inmitten der anderen. Manchmal dockt man an, kurz, wie eine Billardkugel. Ein Mini-Dialog, ein Versichern des gleichen Sinnes. Dann fließt man weiter. Niemand versucht in ein Handy schreiend einen Treffpunkt auszumachen, niemand blökt, dass man eine Alte klarmachen will. Man weiß, dass einem geholfen wird, wenn man strauchelt.

Volkslauf Masse

Als ich vor acht Jahren in New York Marathon lief, kam es bei der Abgabe der Kleiderbeutel an den Fahrzeugen zu einer bedenklichen Engstelle. Die Läufer drängten in zwei Richtungen, ein Zaun begrenzte die Menge, die bedrohlich dicht zusammengeschoben wurde. Bei einem Rockkonzert hätte ich mir in der gleichen Situation vor Angst in die Hosen gemacht. Die Läufer begegneten der Situation mit stoischer Ruhe, es gab keinen Ansatz von Panik. Einer schwang sich auf eine Erhöhung und dirigierte. Die Menge floss ab. Je größer die Anforderungen an die Strecke, desto mehr Zutrauen habe ich zum disziplinierten Sportsgeist der Läufer.

Das ist auch der Grund, weshalb der Chase Corporate Challenge für mich kein Volkslauf ist. Ich bin dort mehrfach gestartet, als es noch keine 70.000 Teilnehmer gab. Das Motto lautete „Jogging statt Mobbing“. Auf der Strecke wurde gemobbt, was das Zeug hielt. Langsame Läufer wurden gerempelt und von der Getränkestelle abgedrängt, die wiederum blieben mitten auf der Strecke stehen und legten eine Gehpause ein, weil sie nicht auf die Idee kamen, zuvor an den Rand zu laufen. In waghalsigen Manövern wurde überholt und geschnitten, zwischen parkenden Autos hervorgesprungen, Schimpfwörter flogen. Überehrgeizige Angestellte wollten ihren Chefs zeigen, was eine Harke ist. Und gerade dort treten viele an, die mir sagen: Nein, einen Marathon mit so vielen Menschen würden sie niemals laufen. Ein echtes Massenphänomen.

 

Titelbild © ZamoraA – istockphoto.com

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2Antworten um “Das Massenphänomen.”

  1. Sternenguckerin Says:

    „Man kann „für sich“ sein, inmitten der anderen.“
    Genau!
    Auch wenn ich noch nie einen Marathon gelaufen bin (und es vermutlich auch nicht schaffen werde) – aber selbst auf einer 10`er Strecke oder kürzer kann man genau dieses Gefühl haben.
    In Kiel (meiner Heimatstadt) ist der Kiellauf im September auch eine mega-Massenveranstaltung, und ein bisschen mulmig ist mir schon ob der schieren Menge der antretenden Menschen.
    Ich will dieses Jahr zum ersten Mal 10 Kilometer dort laufen (6 hatte ich vor einigen Jahrem mal zum Ausprobieren gemacht) und war schon mal als Zuschauerin an der Strecke.
    Es ist so toll, wie die Läufer/innen gefeiert werden. Es ist genauso voll wie an der Partymeile der Kieler Woche (die ich ungefähr so beschreiben würde wie oben im Blog…) aber nicht halb so erschreckend und erdrückend.

    Vielen Dank überhaupt für diese tolle Seite, den Podcast und die Bücher!

    *ein Fäään aus dem Norden* 😉

  2. MagicMike2311 Says:

    Liebe heidi,

    wieder einmal sehr schön geschrieben. Ich glaube, das Problem der Volsksfeste ist eher, dass dir im Gegensatz zum Volkslauf oder Marathon die Massen auch entgegen kommen.
    Über den Chase-Lauf kann man sicher verschiedener Meinung sein. Ein Volkslauf ist er aber sicher nicht. In unserer Firma allerdings wird nicht gegeneinander gefightet, aber miteinander gefeiert. Der einzige Grund, warum ich trotz sportlicher Wertlosigkeit (für mich) dort starte. Außerdem sind dadurch viele Mitarbeiter am Start und trainieren sogar dafür, die sonst nie von sich aus in Bewegung geraten würden. Deswegen halte ich den Lauf für wertvoll.


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