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Läufermomente

Di, Mai 5, 2015

Schnipsel

Läufermomente

Wenn der Läufer über sein Leben als Läufer berichtet, dann erzählt er von der Strecke. Oder vom Marathon. Wie lang, wie schnell, wie weit. Manchmal berichtet er auch von Schuhen. Und am allerliebsten von seinen Zipperlein. Aber der Schein trügt. Das, was sein Leben als Läufer ausmacht, ist nämlich viel mehr als das. Dazu gehört nämlich etwas, was mit ihm passiert ist, auch wenn er die Laufschuhe gar nicht anhat. Ich meine nicht solche Dinge wie mehr essen und besser schlafen. Vielmehr denke ich an Läufermomente, die einem gar nicht immer bewusst sind.

Plötzlich stellen wir fest, dass wir geduldiger sind als andere. Der lange Atem hat sich in unsere Läufer-DNA eingebaut. Wir können gut in größeren Bögen denken. Wir lassen nicht so leicht locker, sind zäher und oft härter im Nehmen. Wir wissen, dass Unangenehmes kommt und auch wieder geht. Wir sind selbstbewusster, weil wir schon viele Ziele erreicht haben. Und wenn wir mal eines nicht erreichen, hebelt uns das nicht aus. Wir sind entschlossen und neigen nicht dazu, zu kneifen. Wir sind auch ein bisschen stur und lassen uns ungern von etwas abbringen, was wir uns vorgenommen haben. Aber wir nehmen vieles sportlich. Wenn wir auf Abwege geraten, finden wir oft auch wieder zurück. Wir geben nicht so leicht auf. Wir wohnen in unserem Körper und wir wohnen schön. Kein saunierender Finne trinkt so gern wie wir. Wir merken auch, dass wir – wie Hundehalter und Radfahrer – immer bestens über das Wetter informiert sind. Es ist uns ja schon am Morgen vom Mützenschirm heruntergetropft. Wir haben nicht das geringste Problem damit, verschwitzte Menschen zu umarmen. Menschliches ist uns nicht fremd. Und Natürliches auch nicht. Wir wissen exakt, wann die Magnolien so weit sind. Und wann es bei den Platanen los geht. Und wir können sehr genau abschätzen, wie lange man in unserem Ort zu Fuß von A nach B braucht. Wenn man solche Dinge bemerkt, sind das immer schöne Läufermomente.

Läufermomente 2

Ich hatte kürzlich einen sehr klassischen Läufermoment. Am 1. Mai wollte ich meine Mutter besuchen, die derzeit vorübergehend in einem Altenheim lebt. Ich wollte etwa gegen 11 Uhr da sein und dann mit ihr zu Mittag essen. Öffentliche Verkehrsmittel sollten mich dort hin bringen, erst die Straßenbahn, dann die S-Bahn. Doch bei meiner Planung unterlief mir ein fataler Fehler. Die Demonstrationen zum 1. Mai zogen genau durch die Straße, auf der die Straßenbahn unterwegs war. Ich stand an der Haltestelle, die Demo war gerade durch und zog drei Straßenbahnen hinter sich her. Sie fuhren in Schrittgeschwindigkeit. Würde ich in eine davon einsteigen, würde ich meinen Anschluss niemals bekommen. Alles würde sich verschieben, ich würde zu einem ungünstigen Zeitpunkt im Heim eintreffen und direkt ins Mittagessen geraten. Auch ein Taxi würde hier nicht durchkommen. Zurücklaufen und das Fahrrad holen würde zu lange dauern. Ich sah auf meine Füße. Schuhe mit dünnen Ledersohlen. Zum Laufen kaum geeignet. Ich trug eine leichte Daunenjacke, am Arm eine Handtasche mit Pralinen. Und dann beschloss ich, es doch zu versuchen. Ich klemmte die Handtasche unter den Arm und lief einfach los.

Es sind etwas mehr als 1,5 km bis zur S-Bahn-Haltestelle. Nicht erwähnenswert für einen Läufer. Ich lief an der kompletten Demo vorbei, an Polizisten und Fahnenschwenkern. Megaphone quäkten in mein Ohr. Aber ich hatte ein Ziel. Und ich weiß eben, wie es ist, wenn man ein Ziel hat. Auch ein Zeitziel. Natürlich hatte ich beim Start auf die Uhr gesehen. Nach siebeneinhalb Minuten war ich an der Konstabler Wache. Die Straßenbahn braucht sieben. Die Lederschuhe hatte ich gar nicht bemerkt. Ich war einfach drauf los gelaufen, alles war egal, würde ich nur die S-Bahn noch bekommen. Als ich auf das Stationsdisplay sah, wurde die S-Bahn Ankunft in 4 Minuten angezeigt. Ich hatte sogar noch Zeit, mich wieder menschlich her zu richten. In meinem früheren Leben als Nichtläuferin wäre ich der Situation ausgeliefert gewesen. Ich hätte geflucht und schlechte Laune bekommen. Durch das Laufen konnte ich meinen Ärger einfach weglaufen und dabei etwas Sinnvolles tun.

So fühle ich als Läuferin öfter. Es gibt immer einen Ausweg. Und auf dem kann man zum Ziel laufen.

 

Bild: © xxee | REHvolution.de – photocase.de

10Antworten um “Läufermomente”

  1. Chris Says:

    Danke für diesen wunderschönen Text!
    Chr.

  2. Wiesel Says:

    Da ist was dran 🙂

    Laufende Grüße Wiesel

  3. whiteytah Says:

    So habe ich das noch nie betrachtet. Aber beim Lesen konnte ich ein ums andere Mal bestätigend nicken. Danke für den schönen Text!
    Viele Grüße,
    Thomas

  4. Sören Says:

    Sehr schön geschrieben und genau so ist es und kann es manchmal passieren wenn wir es einfach geschehen lassen. 🙂

  5. Bea Says:

    Sehr, sehr schön und wahr. Hätte fast eine Träne verdrückt…

  6. Caro Says:

    Toll beschrieben! Ich bin ein richtiger Wetterexperte geworden seit ich laufe. Und auch die anderen Situationen kenne ich.

  7. Iris Says:

    @Bea…also ich habe eine Träne verdrückt.

  8. Julia Says:

    Genauso ist es!

  9. claudia Says:

    hey … so schön zu lesen wieder, und natürlich hat es jeder schon mal genutzt, das ausdauer haben …
    ich wollte mein rad mal von der reparatur abholen und lief mehr oder weniger ungeplant neben meinem radelnden mann die 2 km her, erst wollte er schieben, dann fuhr er langsam schrittgeschwindigeit und dann lief ich locker los und er fuhr nebenher, war schön, mit sandalen (die zum glück gut saßen) und in sommerzivil durch die straßen zu joggen, macht einfach spaß, sein hobby im alltag zu nutzen … laufen ist und bleibt einfach ein traumhaft schöner zeitvertreib. das wetter ist in der regel wurst, man kennt alles alles mögliche getier auf seinen wegen und die grüne wonne derzeit ist sowieso unglaublich schön, entspannt alles den computer-kopf und den büro-körper. Danke wie immer für deinen bericht und lauschiges weiterlaufen wünscht dir und allen anderen hier, claudia

  10. claudia Says:

    fast vergessen … nicht zuletzt alles gute an deine mutter, dass sie bald wieder in ihrem normalen zu hause sein kann…


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