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Winterstein light.

Winterstein light.

Läufer sind wie Mütter. Kaum ist das schmerzhafte Ereignis  – Geburt oder Lauf – vorbei, überwiegt das Glück und alles ist vergessen. Gäbe es dieses Phänomen nicht, wären Volksläufe und Menschheit bald ausgestorben. Wer wiederholt schon freiwillig die Pein von 10 Stunden Wehen oder vier Stunden Marathon? Oder drei Stunden Volkslauf „Rund um den Winterstein“? Ich nicht. Nicht heute. Mein Trainingszustand ist zu desolat für einen 30km Lauf, bei dem 20 km bergauf gehen. Ich würde den Sonntag danach im Bett verbringen und vier Tage lang die Treppen rückwärts herunter gehen. Aber es gibt ja noch eine Art „Winterstein light“ – ein 10km Lauf mit vier Kilometern Steigung. Das reicht heute völlig, finde ich. Mein Trainingspartner geht dagegen schwanger mit dem 30er und nichts kann ihn daran hindern, das Riesenbalg in Steißlage auch selbst auf die Welt zu bringen. Auch wenn es in diesem Jahr noch keinen 25 km Lauf gab, den wir sonst als Geburtsvorbereitungskurs mit Dauerhecheln nutzen.

Also rollen wir heute auf den Parkplatz der Henry-Benrath-Schule in Friedberg, die den Läufern traditionell Unterschlupf gewährt. Gleich bei der angrenzenden „Pension Moni“, deren Inhaberin sicher eine gute alte Freundin von Elvis ist. Alle in Friedberg sind gute alte Freunde von Elvis. Es ist Frühling. Sogar an der Fassade der Schule, denn die ist frisch gestrichen (die bildschöne Kunst am Bau noch ausgenommen). Das muss doch etwas bedeuten.

Friedberg Schule

Friedberg Kunst

Es zwitschert in den Zweigen wie Hölle, allem Anschein nach lässt Friedbergs Fauna das schlechte Wetter völlig unbeeindruckt. Über dem Taunus hängen dicke Wolken.

Friedberg 1

An der Anmeldung und rund um die Umkleidekabinen tummeln sich Menschen, die man einen ganzen langen Winter nicht gesehen hat. Gisela, die alle Umkleiden mit ihrem Geplauder beschallt. Der Stöhnläufer, der beim Laufen nicht nur rhythmisch stöhnt, sondern auch rhythmisch schlecht riecht. Der Oben-ohne-Mann, der seinen nackten Oberkörper für ein Erfolgsrezept hält. Und sogar der Teekessel ist gekommen, aus dem es beim Laufen laut pfeift. Es ist ein bisschen, als würden wir in die Schule gehen und nach den großen Ferien die ganzen Typen aus den Parallelklassen wieder sehen.

Friedberg 2

Wir laufen uns ein und mit jedem Schritt bin ich froh, mich nicht für den 30er entschieden zu haben. Ich muss es mir eingestehen: ich hab’s gerade einfach nicht drauf. Zu wenig Training. Aus der Ferne hört man, wie sich Van-Man Jochen Heringhaus warmmoderiert, eine Stimmfrequenz, die bei mir augenblicklich einen Pawlowschen Volkslaufreflex auslöst. Friedberg 6Sofort muss ich meine Schuhe auf- und wieder zuschnüren. Es geht ja gleich los. Allerdings erst für die Langdistanz. Ich zücke meinen Fotoapparat und lichte sie ab, die 550 Läufer, die morgen die Treppen rückwärts heruntergehen werden. Nach dem Startschuss simuliere ich noch ein bisschen Dehnübungen, kaufe etwas Kuchen auf Vorrat (wer weiß, ob es nachher noch welchen gibt) und stelle mich schließlich selbst zum Start auf.

Freidberg 4

Friedberg 5

Der erste Kilometer ist streckenmäßig ein bisschen langweilig, was allerdings dadurch aufgefangen wird, dass es anfängt zu regnen. Sofort ist man beschäftigt. Zum Beispiel mit Hadern: Warum habe ich nur die Kappe nicht mitgenommen? Oder mit Zukunftsplänen: Die Haare wieder länger wachsen lassen? Was für eine blöde Idee. Im Regen total unpraktisch. Andererseits entstehen ja gerade im Regen die besten Heldenfotos. Ich halte der Fotografin am Wegrand mein immer nasser werdendes Heldengesicht entgegen. Bevor man sich aber noch länger mit dem Wetter ablenken kann, hört der Regen wieder auf. Sollte wohl nur so ein kleiner göttlicher Begrüßungstusch sein. Schon nach dem ersten Kilometer geht es langsam bergauf. Beinahe hätte ich’s vergessen. Es ist nicht steil, aber es genügt, um schwer atmend die Ellenbogen zu schwenken. Viele Läufer ziehen an mir vorbei. Angeber. Trainieren kann ja jeder. Ich versuche meine Zwischenzeiten abzulesen, aber die erscheinen mir komisch. Zu langsam. Bin ich soo eine Walze geworden? Gut, dass ich künftige Kilometerschilder verpasse, so bleiben mir etwaige Depressionsschübe wegen des schwachen Tempos erspart. Plötzlich kommt die Sonne hinter den Wolken hevor. Die nächste Gelegenheit zum Hadern: Hätte ich nicht die Sonnebrille mitnehmen müssen? Sofort geht die Sonne wieder weg. So war das doch gar nicht gemeint! Und überhaupt, müsste jetzt nicht langsam … Genau. Da ist sie wieder, die Passage mit den plattgefahrenen Fröschen. Oder Kröten. (Ich kann zweidimensionale Tiere immer so schlecht bestimmen.) Die liegen hier jedes Jahr herum, etwa über eine Strecke von einem Kilometer. Ungefähr in Höhe der Alligator-Farm, nur falls ihr mal nachschauen wollt. Man muss da einfach ein bisschen Slalom laufen, damit einem nicht so ein Frosch in die Flexkerben gerät und als neuartiges Dämpfungssystem zum Einsatz kommt. Schwupps, schon wieder ist ein Kilometer vorbei.

Ansonsten ist die Strecke eher unspektakulär. Ein Asphaltband zieht sich durch den Ort. Ab und zu riecht es nach Mist, die Alligatoren halten sich geruchlich vornehm zurück. Erst spät im Streckenverlauf dürfen wir in den Wald. Das ist der Vorteil der längeren Strecke: man sieht einfach mehr. Die 10er müssen dagegen nach etwas mehr als fünf Kilometern umdrehen und die ganze Strecke einfach zurücklaufen. Bei km 5 denke ich, dass hier eigentlich der Wendepunkt sein müsste. Verwirrt laufe ich weiter. Tatsächlich muss noch ein Stückchen gelaufen werden, da Start und Zielpunkt nicht der Gleiche sind. Ach so.  Kurz vor dem Wendepunkt treffe ich den Teekessel. Ich bin überrascht. Seine Lunge pfeift nicht. Nicht so schrill und laut wie sonst. Sie macht höchstens ein dezentes Säuseln. Und das bei Kilometer 5! Auf dieser Strecke geschehen seltsame Dinge.

[stextbox id=“info“ float=“true“ align=“right“ color=“696969″ bcolor=“c0c0c0″ bgcolor=“fff5ee“]Lieber später lesen? Hier gibt’s eine Druckversion als PDF ohne Bilder.[/stextbox]

Ich stürze bergab. Das kann ich irgendwie. Man darf einfach nicht ins Hohlkreuz gehen oder zu sehr mit den Fersen laufen, dann bekommt man ein hohes Tempo. Wie beim Skifahren. Stelle ich mir vor. Ich kann nämlich gar kein Skifahren. Aber laufen und das genügt ja. Ich schaue auf die Uhr, rechne, wundere mich, rechne wieder, schaue wieder auf die Uhr, wundere mich – ach egal. Das kann alles nicht stimmen. Weg mit der Uhr. Braucht doch kein Mensch bei dieser Strecke. Ich gebe einfach nur Gas auf dem in der Sonne glänzenden nassen Asphalt. Vorbei an den Fröschen, dem Misthaufen und vielen, die mich vorhin überholt haben. Ha!

Kurz vor dem Ziel muss noch eine Brücke genommen werden. Das tut ein bisschen weh. Die Fotografin schaut gerade, ob ihre Bilder gut geworden sind und kann deshalb kein gutes Bild von mir machen. Pöh. Dann halt nicht. Die Uhr stoppe ich bei 55:19. Das ist für mich völlig in Ordnung bei dieser Strecke. Ich trinke eifrig. Und erfahre, dass ich den bereits ausgeschenkten Tee nicht in meinen leeren, gebrauchten Becher umschütten darf. Selbst wenn sich die Becher absolut nicht berühren. Vorschrift. So werden unsinnig viele Becher verbraucht, die den Veranstalter Geld kosten und den Müllberg größer machen. Angesichts dessen, dass in der Schule Kuchen von privaten Spendern verkauft wird, über deren Küchenhygiene man absolut nichts weiß, halte ich die Bechervorschrift für vollkommen blödsinnig.

Ich lege mich trocken, ziehe mich warm an und gehe wieder ans Ziel. In wenigen Minuten werden schließlich schon die Sieger des 30ers erwartet. Mit 1:54 braucht der Sieger länger als sonst. Unglaublich. 2:49 ist meine Bestzeit. 6 Läufer bleiben heute unter 2 Stunden. Eine Klasse für sich.

Sieger in 1:54:06: Philipp Ratz

Sieger in 1:54:06: Philipp Ratz

2. Mann Lars Breuer.

2. Mann: Lars Breuer.

3. Mann: Frank Zimmer.

3. Mann: Frank Zimmer.

1. Frau in 2:06:09: Veronika Ulrich.

1. Frau in 2:06:09: Veronika Ulrich.

Nach und nach folgen die anderen und einige bekannte Gesichter sind unter den Schnellen. Der Oben-Ohne-Läufer eilt mit wehender Brust dem Ziel zu. „Hier kommt der Frühling!“ ruft Jochen Heringhaus und man spürt im Publikum die Erleichterung, dass der Frühling nicht auch seine Hosen abgelegt hat. Kurz darauf riecht und stöhnt sich auch der Stöhnläufer ins Ziel. Irgendwann folgt auch mein Trainingspartner, Herz und Mütze in der Hand.

In der Schule ist die Siegerehrung derweil schon in vollem Gange. Vor lauter Aufregung bekommen die 10er Sieger zunächst versehentlich die Pokale der 30er. Ansonsten hat man hier das Geschehen voll im Griff. Die Frauen hinter dem Kuchen sind auf Zack, der Kaffee fließt, lange Schlangen werden blitzschnell bedient. Man weiß hier, wie müde Beine sind, die rund um den Winterstein gelaufen sind.

Ich vergesse mal wieder, den Kuchen zu fotografieren und mache noch schnell ein Bild von den letzten Trümmern.

Friedberg Kuchen

Wir schleichen zurück zum Auto bei „Pension Moni“. Hundert Meter, bevor wir unser Ziel erreicht haben, geht ein heftiger Schauer nieder. Ein kleiner göttlicher Abschiedstusch.

[stextbox id=“grey“]Mehr zu Lauf und Veranstalter gibt’s hier.[/stextbox] [stextbox id=“grey“]Winterstein-Geschichten der Vorjahre kann man hier oder dort nachlesen.[/stextbox]

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